Ein ausführliches Gespräch mit Bert Flossbach über die Dominanz der USA, ihren neuen, alten Präsidenten und die Auswirkungen für Anleger in Europa.
Auf welche Region sollten Anleger in diesem Jahr stärker schauen – auf Europa oder die USA?
Ich würde mich lösen von den Regionen – oder auf die einzelnen Unternehmen schauen, deren Geschäftsmodelle und langfristige Ertragsperspektiven. Der Ort des Hauptsitzes ist zunächst zweitrangig.
Und wenn Sie sich entscheiden müssten zwischen Europa und den USA – wo sind die Renditeaussichten in den kommenden Jahren am besten?
Dann würde ich sagen, dass beide Regionen nicht miteinander zu vergleichen sind und mich vermutlich auf Warren Buffett berufen ...
Inwiefern?
Der hat in einem seiner viel beachteten Jahresberichte folgendes geschrieben: “In its brief 232 years of existence, however, there has been no incubator for unleashing human potential like America [...] Our unwavering conclusion: Never bet against America.” Wette niemals gegen Amerika ...
Warum ist das so?
Auf US-Unternehmen entfallen nach Schätzungen der EU-Kommission 42 Prozent der weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Bei den Aufwendungen für Softwareentwicklung sind es sogar 70 Prozent – ein wesentlicher Grund für die hohe Produktivität. Die USA erwirtschaften in Summe mehr als ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung und ungefähr ein Drittel der Unternehmensgewinne weltweit. Dabei beträgt der US-Anteil an der Weltbevölkerung gerade einmal vier Prozent.
Aber woher kommt diese Dominanz?
Nirgendwo sonst sind der Unternehmergeist und die dazugehörende Risikobereitschaft ausgeprägter als in den USA. Diese uramerikanische Eigenschaft zieht Talente aus der ganzen Welt an. Viele der heute führenden Technologieunternehmen wurden von Einwanderern gegründet oder geformt. Denken Sie nur an Jensen Huang und Nvidia.
Das Produktivitätswachstum hat sich in den USA ausgerechnet nach der Finanzkrise 2008 im Vergleich zu den anderen nochmals beschleunigt – was sind die Gründe?
Massive Investitionen und Innovationen im Hightechbereich. Die großen Technologieunternehmen haben sich eine weltweite Vormachtstellung erarbeitet, die sich auch in deutlich gestiegenen Börsenwerten niederschlägt. Ende 2008 lag die Marktkapitalisierung der im S&P 500 enthaltenen Unternehmen bei nur acht Billionen US-Dollar. Ende 2024 waren es 52 Billionen und damit 6,5-mal so viel. Besonders krass ist der Wertzuwachs bei den sogenannten „Magnificent 7“ (Apple, Nvidia, Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta und Tesla, Anm. der Redaktion). Ende 2008 lag ihr Börsenwert in Summe nur bei 372 Milliarden US-Dollar. Meta und Tesla waren damals noch Start-ups. Heute sind es 17,6 Billionen, die Unternehmen sind also 47-mal so viel wert!
Was ist mit Europa?
Betreibt zwar erfolgreiche Grundlagenforschung, schafft es aber nur selten, neue Technologien in erfolgreiche Produkte und Unternehmen zu transformieren. Für Deutschland gilt das im Besonderen.
Warum ist das so?
Das liegt an dem im Vergleich zu den USA schlechteren Finanzierungsumfeld – es gibt weniger Wagniskapitalgeber – und einen nicht so stark ausgeprägten Unternehmergeist.
Woran machen Sie das fest?
Eigenverantwortung und Unternehmertum stehen in Europa und besonders in Deutschland nicht hoch im Kurs. Im Gegensatz zu den USA herrscht Vollkaskomentalität. Der Staat gilt als Retter in allen Lebenslagen und sicherer Wunscharbeitgeber. Eine ausufernde EU-Bürokratie überzieht die Unternehmenslandschaft mit einem Regulierungsdickicht, das oft noch durch unterschiedliche nationale Vorschriften ergänzt oder verschärft wird.
Haben Sie ein Beispiel für die aus Ihrer Sicht überbordende Bürokratie?
Die Spezialität deutscher Gesetzgebung besteht darin, EU-Vorgaben aus Brüssel bereits früher umzusetzen, nehmen wir das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz als Beispiel. Oder noch weiter zu verschärfen, auszuweiten und zu verkomplizieren – so wie etwa das Gebäudeenergiegesetz, kurz GEG.
Wie groß ist der Schaden?
Die jährlichen Bürokratiekosten in Deutschland werden auf bis zu 65 Milliarden Euro geschätzt. Weniger Zeit fürs Kerngeschäft, weniger Innovationen, weniger Nachhaltigkeit im echten Leben, dafür mehr auf dem Papier.
Glauben Sie, dass viele Unternehmen Deutschland den Rücken kehren könnten?
Es wäre kein Wunder. Zumal es nicht nur die Bürokratie ist, die Unternehmer verschreckt, sondern auch die planwirtschaftliche Industriepolitik; sie behindert den wirtschaftlichen Wandel. Volkswagen und die Interventionen der Politik sind ein gutes Beispiel.
Inwiefern?
Bestehendes soll zementiert werden, anstatt eine Anpassung an neue Realitäten zu ermöglichen. Das bindet Fachkräfte in alten Strukturen, während sie in anderen Unternehmen dringend benötigt werden. Mit einer solchen Wirtschaftspolitik wird es nicht gelingen, mit den USA Schritt zu halten.
Heißt?
Der Standort Deutschland verliert an Attraktivität. Eine zerbröselnde Infrastruktur, rückständige Digitalisierung, verkorkste Energiepolitik und eine kafkaeske Bürokratie schrecken Investoren ab. Die Unternehmensinvestitionen liegen heute etwa zehn Prozent unter dem Niveau von 2019. So schrumpft der Bestand, ohne dass viel Neues nachkommt. Wachstum gibt es nur noch im öffentlichen Dienst.
Was hilft, um den Trend umzukehren?
Vielleicht wächst mit der Krise die Erkenntnis, dass eine gesunde Wirtschaft die Voraussetzung ist für einen funktionierenden Sozialstaat, für äußere Sicherheit und ökologische Transformation – und dass die dazu erforderlichen Mittel jedes Jahr aufs Neue erwirtschaftet werden müssen. Jahrelang hat die Politik den Menschen vorgegaukelt, es ginge auch anders: Man müsse den Kuchen nicht backen, sondern nur verteilen.
Auch Frankreich ist politisch und wirtschaftlich kein Hort der Stabilität und Prosperität. Die im Jahre 2023 von Präsident Emmanuel Macron gegen entschiedenen Widerstand durchgesetzte Rentenreform und der im Sommer 2024 geplante Sparhaushalt haben maßgeblich zum Rücktritt der Regierung Barnier beigetragen. Wie beurteilen Sie die Lage?
Es braucht Mut, um notwendige, aber unangenehme Maßnahmen durchzusetzen und nicht wieder zu revidieren – das gilt in Frankreich vermutlich noch mehr als anderswo. Das Land kämpft zudem mit einem hohen Schuldenberg, der mit 112 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht nur den Handlungsspielraum der Politik einschränkt, sondern auch an den Finanzmärkten mit zunehmender Sorge betrachtet wird. Nach Italien muss Frankreich inzwischen die höchsten Zinsen in der Eurozone zahlen. Für 10-jährige französische Staatspapiere sind es aktuell rund 3,4 Prozent im Vergleich zu 3,2 Prozent in Spanien und 3,0 Prozent in Portugal.
So hoch ist der Zinsaufschlag Frankreichs nun auch wieder nicht ...
Es geht mir mehr um die Signalwirkung – die ist groß. Und sie entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Wie meinen Sie das?
Frankreich rückt als Mitinitiator und ehemaliges Kernland der Eurozone nun langsam an die Peripherie. Noch ist das Zinsniveau absolut betrachtet zu verkraften, aber jedes zusätzliche Prozent bedeutet bei Staatschulden von drei Billionen Euro eine Zusatzbelastung von 30 Milliarden. Die politische Instabilität und der zunehmende Populismus könnten die Staatsausgaben und die Schulden weiter stark wachsen lassen.
Wie groß ist die Gefahr einer Staatsschuldenkrise in Frankreich?
Vermutlich wird die Europäische Zentralbank als Retter der letzten Instanz Frankreich unter die Arme greifen.
Ist die Sorge um den Staatshaushalt auch der Grund, warum der französische Aktienmarkt 2024 mit einem Plus von weniger als einem Prozent – inklusive der Dividenden – weit hinter die anderen Märkte zurückgefallen ist?
Das hat sicherlich verschiedene Gründe, wenngleich die zunehmenden Sorgen über die Finanzstabilität und den Standort Frankreich sicherlich dazugehören.
Wird der Vorsprung der USA unter dem neuen Präsidenten gegenüber Europa und dem Rest der Welt wachsen oder schmelzen – ist Trump eher Fluch oder Segen?
Die Erfahrung aus der ersten Amtszeit von Donald Trump lautet: Man muss ihn ernst nehmen, auch wenn man nicht alles ernst nehmen muss, was er sagt.
Woran denken Sie konkret?
Weder hat er die Nato verlassen noch Zölle auf europäische Autoimporte verhängt, Nordkorea bombardiert oder die mexikanische Grenze mit einer durchgehenden Grenzmauer geschlossen. Man weiß jedoch nie, wie ernst er etwas meint.
Aber wie geht man damit um?
Übertreibungen gehören zu seinem Verhandlungsstil, deshalb laufen Prognosen zu seiner Politik immer Gefahr, vom Chaos eingeholt zu werden. In einem Interview mit dem „Wall Street Journal“ im Oktober 2024 hat Trump behauptet, dass Chinas Präsident Xi Jinping ihn respektiere, weil er „fucking crazy“ sei. Bereits vor seiner Amtseinführung bemüht er sich, diese Selbsteinschätzung zu bestätigen. Grönland, Kanada, der Panamakanal: Nichts scheint vor ihm sicher. Trump setzt die exzeptionelle wirtschaftliche und militärische Macht der USA als Druckmittel ein, wo immer es ihm gefällt.
Und er verspricht, was ihm gefällt ...
Kriege beenden, Grenzen sichern, die Inflation besiegen, Schulden zurück